Bernward Vesper, Dichter & Verleger

"Ich habe nicht darum gebeten, Europäer werden zu dürfen,
geboren als Deutscher im Jahre 1938 in einer Klinik in
Frankfurt an der Oder, als Kind von Mittelklasseeltern,
die einem vertrottelten Traum vom Tausendjährigen Reich
anhingen. Ich werde mir die Freiheit nehmen, die man mir
vorenthalten hat, ich werde mich verwandeln, bis ich alle
Stadien durchlaufen habe."

Die Person, die uns zornig und unzufrieden diese Worte entgegenschleudert, war kein bedeutender Schriftsteller, aber auch kein unbedeutender Autor. Er hat nur ein einziges Buch geschrieben, welches erst sechs Jahre nach seinem Tod veröffentlicht wurde und noch dazu vielen als unlesbar gilt. Kaum ein Mensch aus Frankfurt (Oder) wird den Namen des Autors kennen, keine Straße heißt nach ihm und nach seiner Geburt kam er auch nie mehr hierher zurück, obwohl er doch nur wenige Kilometer entfernt, in Westberlin, lebte.

Bernward Vesper (* 1. August 1938 in Frankfurt an der Oder, † 15. Mai 1971 in Hamburg) war der Sohn des Nazidichters Will Vesper und der erste Lebensgefährte der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin, mit der auch einen gemeinsamen Sohn zeugte. Sein Leben und Schreiben und Sterben ist deswegen so interessant, weil sich soviel Exemplarisches zur deutschen Nachkriegsgeneration darin verdichtet.

Bernward wuchs im Westteil Deutschlands, auf dem Gut seiner Eltern in Triangel bei Gifhorn, auf. Lange Zeit stand er unter dem autoritären Einfluss seines rechtskonservativen Vaters, des Blut-und-Boden-Romantikers Will Vesper. Als der Vater längst tot war, versuchte Bernward gemeinsam mit seiner damaligen Lebensgefährtin und Verlobten Gudrun Ensslin das Gesamtwerk des Vaters herauszubringen. Erst nach und nach konnte er sich vom Vater und dessen Weltanschauung lösen und kippte gleichsam ins andere Extrem, den Linksextremismus, in Drogenräusche und die sogenannte freie Liebe. Der offenbare Antisemitismus blieb.

Nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes, Felix, verließ Gudrun Ensslin den ausgeflippten Schwerenöter, nur um diesen durch einen anderen durchgeknallten Casanova zu ersetzen: Andreas Baader. Der hochintelligente Bernward Vesper, der immer davon träumte, schriftstellerisch in die Fußstampfen seines Vaters zu treten, verfasste in den Jahren 1969-71 sein einziges, als Romanessay bezeichnetes Werk: DIE REISE. Der Arbeitstitel wechselte mehrmals, das Buch sollte ursprünglich HASS, später TRIP und dann LOGBUCH heißen.

DIE REISE ist mehrdeutig angelegt und schildert verschiedene Ebenen. Da wäre zuerst die Lebensreise: Anekdoten, Reflektionen und Erinnerungsfetzen zur eigenen Vergangenheit. Dem gegenüber steht die innere Reise: Drogentrips unter Einfluss von Haschisch, LSD und andere Substanzen aus der Hausapotheke einer normalen Berliner Wohnkommune in den 1960ern. Darüber hinaus entstand diese Auto-Biografie quasi auf der Reise, Blatt für Blatt, Zettel für Zettel, Notiz für Notiz, denn der Autor führte zum Ende einen mobilen Lebenswandel.

Der Buchinhalt ist ganz Bewusstseinsstrom, Gegenwart und Vergangenheit durchmischen sich. Die Zukunft ist in nüchternen Prognosen und luziden LSD-Visionen ebenso vertreten. „Wir sollten uns nicht mit der Frage herumquälen, wie die Worte entstanden sind, sondern die Dinge – damit wir eines Tages ohne die Sprache auskommen können.“ (S. 218) Ab und an ist vermerkt, wann der Autor beim Schreiben unter welchem Stoff stand: Grüner Türke, Roter Libanese, Schwarzer Afghane, Mikro-Meskalin. Zum Ende hin stößt der Leser dann auf diese Zeilen: „Eine Tages langweilten mich die künstlichen Paradiese mit ihrer Schönheit. Als ich mich umsah, saß ich immer noch in meinem Pisspott.“ (S. 504)

Trotz seines wirren Handlungsverlaufs, der keiner ist, gilt DIE REISE als „das schlechthin gültige Buch über Bewusstsein und Entwicklung der deutschen Nachkriegsjugend“ (Der Spiegel). Timothy Leary, Albert Hofmann, Ulrike Meinhof, Langhans und Kunzelmann und Konsorten, alles, was seinerzeit Rang und Namen hatte, kommt - zumindest namentlich - darin vor. So heißt es im Prolog der Herausgeber, die aus dem Zettelkasten ein halbwegs lesbares Buch collagieren mussten: „Die Ähnlichkeit von Personen dieses Buches mit lebenden Personen beruht nicht auf Zufall, sondern wurde in etwa zweijährigem Arbeitsprozess hergestellt.“

Kurz nach Fertigstellung oder sollte man besser sagen: nach Abschluss des Romanfragments nahm sich Bernward Vesper, der mittlerweile in einer psychiatrischen Klinik lebte, mittels Schlaftabletten das Leben. Wenn man das lesenswerte Erinnerungsbuch VOR DER REISE von Henner Voss, seinem ehemaligen Mitbewohner in der Kreuzberger Cuvrystraße, richtig deutet, dann war das auch von Anfang an so geplant.

Vesper wurde mit seinen 32 Jahren beinahe so alt, wie der andere Frankfurter Dichter und Selbstmörder: Heinrich von Kleist (34).

Nun denn, lasst uns auf REISEN gehen! Ein wirklich wahnsinniges Buch!

Lesetipp:
  • Bernward Vesper: Die Reise. Romanessay, Ausgabe letzter Hand.
  • Henner Voss: Vor der Reise. Erinnerungen an Bernward Vesper.
  • Gerd Koenen: Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus.

Frankfurt (Oder)

Hart an der Grenze

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